Wohnsitzlos: zwei Jahre mit Autismus auf Reise

Die PDA - Reise geht weiter...

Zwei Jahre sind nun vergangen. Seit unserem Sprung ins gänzlich Ungewisse sind einfach mal zwei Jahre vergangen. Es hört sich so verdammt kurz und doch auch so wahnsinnig lang an. Denn in diesen zwei Jahren ist so unglaublich viel - Positives - passiert. Zwei Jahre experimentieren. Zwei Jahre Learning. Zwei Jahre Unsicherheit und zwei Jahre Ungewissheit, ob das der Weg ist. Zwei Jahre volles Leben!

 

Zwei Jahre - und dann wollten wir spätestens wissen, wie genau unser Leben eigentlich weiter geht. Zwei Jahre - dann sollte der Plan stehen. Zwei Jahre - und dann könnten wir auch in unser altes Leben zurück. Ich mache es nicht unnötig spannend. Aktuell: niemals zurück!!!

Und wie geht es dann weiter? Wie ist der Plan? Was haben wir nun gelernt und was wollen wir nun umsetzten? 


PDA - Autismus: Was ist das? Woher kommt das? Was macht das?

Ich fasse das nur sehr kurz zusammenfassen, für all jene denen unser Instagram-Account nicht bekannt ist. Der Begriff PDA (Pathological Demand Avoidance) in Verbindung mit Autismus steht für ein Verhaltensprofil bei Menschen im Autismus-Spektrum. Ins Deutsche übersetzt wird sofort deutlich, um was es geht: die Vermeidung von Anforderungen.

 

Die entsprechenden Personen haben extreme Schwierigkeiten alltägliche Anforderungen oder Erwartungen – auch solche, die die Person selbst umsetzen möchte – zu akzeptieren und zu erfüllen. Dies müssen nicht nur Anforderungen von außerhalb sein, sondern können auch innere Anforderungen (bspw. der Toilettengang) sein. Festzuhalten ist, dass die Ablehnung keine Faulheit oder Trotzreaktion ist, sondern sozusagen eine Fehlschaltung im Nervensystem ist. Dies gerät bei Anforderungen nämlich in extremen Stress- und Angstzustand. Dieser Zustand ist vergleichbar mit der Panik, die wir hätten wenn wir eine geladene Waffe an der Schläfe hätten. Deshalb haben Personen mit PDA ein starkes Kontrollbedürfnis (um diesem Stress zu entgehen). Hierdurch erscheinen die Personen als impulsiv und unkontrollierbar.


Was war vor zwei Jahren passiert?

Tatsächlich habe ich nach etwas einem Jahr bereits einen Rückblick auf die vergangene Zeit geworfen. Im Beitrag Autismus, Burn-out und die Reise zu uns könnt ihr nachlesen was zuvor alles - besonders in Bezug auf das Thema Schule / Schulpflicht - passiert war. Wir haben uns vor zwei Jahren jedenfalls sehr spontan und mehr schlecht als recht, aber vor allem aus tiefster Not heraus, in unser ziemlich ungeplantes Abenteuer als Dauer-Reisende / Haus- und Tiersitter gestürzt. Das alles einfach nur, um überhaupt wieder ein Leben zu bekommen. Um nicht mehr nur zu existieren und um das Überleben zu kämpfen, sondern um wirklich ein lebenswertes Leben und eine Zukunft zu haben.

 

Und um das zu erreichen haben wir uns sozusagen in die Wohnsitzlosigkeit gestürzt...

 

Wohnsitzlos - geht das?

Die mit häufigste Frage, die uns gestellt wird ist die bezüglich unseres Wohnsitzes. Die meisten Menschen sind der Annahme, dass es nämlich einen Wohnsitz irgendwo auf dieser Welt benötigt. Das tut es jedoch nicht. Tatsächlich kann man wohnsitzlos sein und sozusagen open-end reisen. Eine Anmeldung in irgendeinem Land ist nicht nötig (wenn die jeweiligen geltenden Regelungen beachtet werden).

 

Ich gehe aus mehreren Gründen jedoch nicht auf dieses Thema ein. Zum einen ist es sehr individuell zu behandeln/handhaben. Zum anderen kursieren bereits genügend "angebliche" Tipps wie man das deutsche Schulsystem umgeht. Jeder der ernsthaft vor hat in diese Richtung zu gehen, sollte sich - unser Rat - mit einem Anwalt zusammensetzen und sich beraten lassen. Es hängen mit der Krankenversicherung, dem Kindergeld und bei autistischen Kindern  eben auch dem Pflegegeld viele Themen daran. 


Der Plan ist - kein Plan!

Kurz gesagt: die zwei Jahre gehen einfach weiter. Denn es gibt keinen Plan. Nichts ist planbar. Niemand weiß was kommt und vorbereiten, das haben wir bei unserem Sohn mit PDA-Autismus gelernt, das geht nicht. Auf nichts und gar nichts können sich PDA-Eltern vorbereiten.

 

Dem Entgegen steht das, mit was wir aufgewachsen sind und was sehr sehr viele Menschen sich wünschen und lieben: die Sicherheit. Vor allem eben wir Deutschen lieben kaum etwas so sehr wie die Sicherheit. Wir versichern uns nicht nur gegen jegliche Eventualitäten mit Versicherungen. Wir haben auch ein tiefes Bedürfnis nach Planbarkeit und Kontrolle. Wir treffen die meisten Entscheidungen mit Bedacht und großer Vorsicht. Je mehr wir uns an die Regeln halten und uns in das Systems einfügen, umso kontrollierbar erscheint die Zukunft.

 

So funktioniert es jedoch häufig leider nicht. Jeder weiß: es ist das Leben. Man weiß nie was kommt. Allerdings erscheint es dennoch so, als lasse sich das Leben irgendwie planen und vorhersehen. Zumindest möchten wir alles dafür getan haben. Wir sind dieser "Traumerscheinung" aber entflohen. Auch dem Gedanken es lasse sich nur irgendetwas planen. Nicht das Mittagessen oder der nächste eigentlich sehr logisch erscheinende Schritt (also ich spreche von einem wirklichen Schritt!) ist mit einem Kind mit PDA planbar oder vorhersehbar!

 

Übrigens, ich habe ausnahmsweise mal ChatGPT nach dem Sicherheitsdenken der Deutschen gefragt. Heraus kam - Zitat von ChatGPT:

"Der Begriff „deutsches Sicherheitsdenken“ bezeichnet eine spezifische kulturelle, historische und politische Haltung in Deutschland, die sich durch eine besonders vorsichtige, risikoscheue und regelorientierte Herangehensweise an sicherheitspolitische und gesellschaftliche Fragen auszeichnet. Es hat sich über Jahrzehnte entwickelt und ist tief in der deutschen Politik und Gesellschaft verwurzelt."

 


Aber Ihr müsst doch an die Zukunft denken...

Aber Ihr müsst das Kind doch auf das wahre Leben vorbereiten...

Aber Ihr könnt das Kind doch nicht vor allem Schützen. Das muss es doch lernen...

 

Wer sagt, was wir müssen? Wer sagt uns, was das wahre Leben ist? Was ist denn das wahre Leben? Und wer spricht hier von Dauerschutz? 

 

Lassen wir einen Blinden einfach so über den Bahnübergang laufen und sagen: das muss er schon lernen? Lassen wir das Baby vom Wickeltisch fallen, denn das muss es lernen? Lassen wir den Zwölfjährigen ans Steuer des Autos, denn er muss es ja eh lernen? Nein! Nein? Warum nicht!?! Genau, weil wir wissen, dass es nicht funktioniert! Nur weil Autisten keine sichtbare Behinderung haben, heißt dies nicht, dass sie Gefahren oder auch ganz normale Dinge im Alltag verstehen. Würden sie unsere Handlungen einfach verstehen und wir ihre, dann hätten wir die vielen Missverständnisse doch gar nicht. Wer sein autistisches Kind nicht alleine zum Bäcker laufen lässt oder beim Mobbing in der Schule eingreift, der macht dies nicht aus "Helikoptergründen", sondern weil es das Kind wirklich nicht kann. Nicht kann!

 

Viele Dinge lernen die Kinder oder verstehen auch die neurodivergenten Erwachsenen eben nicht. Wenn andere dann eingreifen hat dies nichts mit Schutz zu tun, sondern mit Hilfe. Hilfe und Verständnis, die bzw. das wir niemandem verwehren sollten. 

 

Daher sind wir auch ganz klar der Meinung, dass wir unseren Sohn nicht in Watte packen, sondern ihn in seinem Tempo auf gewisse Dinge vorbereiten und ihn unterstützen. Allerdings kann es auch sein, dass er gewisse Dinge eben NIE lernen wird. Das ist bei Autismus eben nicht vorhersehbar. Wie stark seine Einschränkungen später sein werden weiß niemand und ist nicht planbar - auch nicht mit Therapien...

AI generiertes Foto von @pixabay.
AI generiertes Foto von @pixabay.

 

Zurück zum Thema Zukunft und das wahre Leben. Meine absolute Lieblingsaussagen ;-) 

 

Wir alle glauben und hoffen unsere Kinder auf das wahre Leben und die Zukunft vorzubereiten. Doch eigentlich bereiten wir sie nur auf ein System vor. Ein System in dem wir gelebt haben und in dem sie nun überleben können. Denn, was ist denn das "wahre Leben"Wenn wir den Milchbauern in Australien nach dem "wahren Leben" fragen, dann wird er definitiv eine andere Antwort geben als die Köchin in Tansania. Die Mutter eines kleinen Kindes eines Stammes in Botswana hat eine andere Vorstellung als der Investmentbroker in Schweden. Das Leben ist sehr individuell. Auch wenn wir nur von den Vorstellungen der Europäer oder gar Deutschen ausgehen und diese vergleichen. Sicherlich werden die Antworten hier oftmals ähnlich ausfallen, aber hauptsächlich nur aus einem Grund: weil wir so geprägt sind. Wir sind so aufgewachsen. Wir sind es so gewohnt. Wir kennen es nicht anders. Vor allem: wir hinterfragen es kaum. Es läuft ja - schon immer -  gut. Und da kommen wir zum Punkt: wenn es so läuft, warum ändern? Richtig. Doch was, wenn es eben nicht so läuft?!

 

An diesen Punkt sind wir gelangt. Ein normales Leben - wie es die meisten nennen - war/ist nicht möglich. Deshalb machen wir es anders.

Mittlerweile sind wir (dank unserem Sohn) sowieso der Meinung, dass prinzipiell viel zu viel getan wird, weil es halt so ist. Nicht weil man es gerne macht oder weil es einen wirklichen Sinn hat, sondern weil das schon immer so war....

 

So werden die Kinder im "wahren Leben" also in die Schule geschickt, damit man selbst arbeiten kann. Es ist wichtig einen Abschluss zu haben und am besten noch zu studieren und vielleicht sogar noch einen Titel draufzuhauen. Viele würden sagen, damit ist mein Kind dann bestens auf die Zukunft und das "wahre Leben" vorbereitet. Wirklich? Ich glaube nicht! Natürlich wird es, wenn es gut läuft - viel - Geld verdienen, ein Häuschen bauen und vielleicht selbst irgendwann eine Familie gründen. Aber ist es damit wirklich gut auf das Leben vorbereitet? Da kommt für mich nämlich die entscheidende Frage hinzu: hat es gelernt glücklich zu sein? Wirklich glücklich und zufrieden - ausgenommen dem Ansehen von außen? Das ist meines Erachtens der wichtigste Grundstein, den Kinder mitbekommen sollten: glücklich, mit sich zufrieden.  Viele rufen nun auf: ja, ganz sicher! Wir sind doch alle glücklich! Sind wir? Die vielen Erlebnisse - auch aus dem eigenen Bekanntenkreis - zeigen, dass es ganz oft nicht so ist. 

 

Wirklich glücklich zu sein ist schwer. Meist wollen wir ja auch gar nicht so richtig glücklich sein, aber das ist ein anderes Thema. Trotzdem hoffe ich, dass ich Einige ein wenig zum Nachdenken animieren konnte, über das Leben und die Zukunftsgedanken die wir uns - zu häufig - machen.

 

 

Zurück zu uns: wir versuchen unseren Sohn den bestmöglichen Weg zu ebnen, damit er einmal selbständig am Leben teilhaben kann. Wir haben keine Ahnung, ob das erfolgreich sein wird oder nicht. Wir haben keine Ahnung, ob wir alles richtig machen. Aber darum geht es auch nicht. Wir wollen ihn bei seiner Entwicklung bestmöglich unterstützen. In die Hand nehmen können wir es nicht. Wie dann sein wahres Leben, seine Zukunft mal aussieht - kein Plan. Was wir also vorhaben - kein Plan, wir schauen. Was ich nächstes Jahr hier berichte: überhaupt kein Plan. Aber er hat uns das ja schon gelehrt: kein Plan zu haben ist gar nicht schlecht. Das Leben ist einfach so. Das ist wohl das "wahre Leben". Und das Leben ist sowieso und definitiv dein allerbester Privatlehrer. 

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