Der Tote vor der Haustüre

Mama - Das Weichei

Samstag, 10. Juni, ca. 22:25 Uhr. Genau jetzt vor drei Wochen. Ein dumpfer Schlag, ein langes helles Schleifen, ein grelles Scheppern, Stille. Totale Stille. Mein Instinkt sagt mir sofort: "Scheiße, da ist was mächtig schief gegangen." Papa zuckt mit den Schultern. "Da war einer zu schnell und ist eben über die Verkehrsinsel gedonnert." Mir huscht ein leichtes Lächeln über die Lippen. Ja, so mag es eben wohl gewesen sein. Doch irgendwie lässt es mich nicht los. Um Papas Spott nicht auf mich zu ziehen, bleibe ich brav auf dem Sofa sitzen.

 

Zehn Minuten später: In der Ferne kommen Blaulichter, Sirenen heulen. Ich springe auf, die werden doch nicht... Doch! Sie fahren zur Verkehrsinsel, keine zweihundert Meter vor unserem Haus. Ich stehe auf dem Balkon, sehe nicht viel, aber ich wieß: "F..., da ging doch etwas mächtig schief!" Der Krankenwagen kommt. Papa nimmt es wie immer noch sehr gelassen. Keine fünf Minuten später ist der Krankenwagen schon weg. Dafür kommt auch noch die Feuerwehr. Mein ungutes Gefühl wächst und wächst. "Mensch, stell dir mal vor da hätte es einen Motorradfahrer erwischt, den hätte es ins Gebüsch geschleudert und wir haben nicht einmal geschaut!" Papa verdreht die Augen: "Du hast wieder eine Phantasie!"

 

Mamas Intuition:

Leider behielt ich fast recht. Bei angesprochenem Unfall hatte es tatsächlich einen Motorradfahrer erwischt. Er war zu schnell gewesen, hatte an der Ausfahrt der Verkehrsinsel den Bordstein gestreift. Er war schwer gestürzt. Sehr schwer. Alle Wiederbelebungsversuche scheiterten. Er starb. Er war 42.

 

Keine zwei Stunden später hatte ich - leider schon - davon erfahren. Wir haben zahlreiche Freunde bei der Feuerwehr. Ich hatte nachgehakt, weil es mir keine Ruhe ließ.  Bis 1  Uhr in der Nacht leuchtete die Feuerwehr die Unfallstelle aus, damit die Polizei alles vermessen und den etwaigen Unfallhergang rekonstruieren konnte. Zum Zeitungsartikel.

 

Unbekanntes Mitgefühl...

Ich machte in der Nacht kaum ein Auge zu. Bei jedem noch so leisteten Geräusch schreckte ich panisch auf. Ich machte mir Gedanken. Gedanken, die ich so nicht kannte. Ich fragte mich ob jetzt wohl irgendwo eine verzweifelte Ehefrau und Mutter im Bett sitzt, ein Kind seelig schläft und morgen früh erfährt, dass Papa nicht mehr da ist und nie wieder kommt....

 

Ich fühlte mich so schlecht, so verdammt hilflos. Ich fragte mich wie schlimm es sein muss, wenn du daheim sitzt, auf deinen Ehemann wartest und anstatt Papa plötzlich die Polizei vor der Türe steht. Schon beim darüber Nachdenken brach eine Welt für mich zusammen und ich weinte. Tagelang, nein um ehrlich zu sein, bis heute beschäftigt mich der Unfall noch. Manchmal kommen mir noch die Tränen. Früher hätte mich das recht kalt gelassen. Mit einem "selbst Schuld, er war zu schnell", hätte ich alles abgehakt. Heute leider nicht mehr.

 

Werden Mamas Weicheier?

Jetzt frage ich mich, was ist aus mir geworden?!? Wo ist nur diese taffe, selbstbewusste Frau, die nichts schockieren konnte, hin? Klar, ist es mir auch bisher kurz durch Mark und Bein gegangen, wenn wir an einem schlimmen Unfall vorbeikommen sind. Trotzdem war es nie ein Problem die "Sache" schnell abzuhaken. Doch jetzt als Mutter klappt das nicht mehr. Etliche Gedanken kreisen ständig in meinem Kopf. Ich frage mich noch immer wer auf den verunglückten Motorradfahrer wartete. Vielleicht wartete ja auch niemand, vielleicht war er gewalttätig, vielleicht hat er Kinder missbraucht - sagt mein Mann, der Papa, immer wieder. Doch ich kann mich damit nicht abfinden. Was wenn nicht?! Was wenn doch Mama & Kind zu Hause warteten....

 

Ich frage mich, wieso mich das interessiert. Ändern lässt sich es sich eh nichts mehr. Wieso lässt sich die Sache nicht mehr wie früher, als ich noch keine Mama war, abhaken???

 

Ich bemerke, wie ich zusehends verweichliche. Vieles was mich früher nicht interessierte rührt mich heute zu Tränen. Einige Monate in der Schwangerschaft war das schon so gewesen. Dann ging es wieder. Doch jetzt, etwa seitdem der Kleine knapp zwei Jahre alt ist, wird es immer schlimmer. Ich schiebe Panik vor Dingen, die bisher nicht der Rede wert waren. Ich verstehe Mütter, die ich bisher ausgelacht habe, weil sie immer gleich Angst vor allem hatten. Ich fühle mich wie ein Weichei. Ich bin ein Weichei.

 

Die Draufgängerin?

Irgendwie bin ich aber doch noch eine Draufgängerin. Jedenfalls wenn ich denke die Sachen in der Hand zu haben macht es mir nichts aus. Ich gebe Gas - auf der Autobahn. Ich fahre selbst Motorrad. Wir kraxeln auf Bergen herum, wir fliegen in ferne Ländern. All das ist nicht weicheimäßig, oder?

 

Wie seht Ihr das? Seid Ihr Draufgänger oder eher Weicheier? Oder was denkt Ihr über die Sache? Mache ich mir zu viel Gedanken oder könnt Ihr das nachvollziehen?

 

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Kommentare: 5
  • #1

    KA (Dienstag, 18 Juli 2017 21:16)

    Ich hab Angst bei spannenden Filmen, kann keinen Tatort gucken, bei dem es um Kinder geht.
    Wehe mein Mann fährt Abends los und ich höre danach Sirenen...

  • #2

    Kind im Gepäck (Dienstag, 18 Juli 2017 22:54)

    Ohja, das ist schlimm... ich kann das Bestens verstehen....

  • #3

    Denise (Sonntag, 06 August 2017 20:47)

    Hi, also ich laufe unter "Weichei" seit den Kindern. Kinder zu bekommen, verändert einen, macht die Welt irgendwie anders, bewusster? Wir sind vor Jahren mal an einer Unfallstelle auf der Autobahn vorbeigefahren, da standen noch Rettungswagen und es lagen eindeutig Kindersitze auf der Fahrbahn. Uns hat es aber beide umgehauen, mein Mann hatte auch Tränen in den Augen, bei mir kullerten ein paar Tränen. Wir wissen nicht, was passiert ist, vielleicht (hoffentlich!) waren alle nur wenig verletzt (die Autos waren zerstört), aber allein der Gedanke, dass vielleicht Kinder dies erlebt haben oder "nur" betroffen sind, weil Papa oder Mama verletzt wurde, schlimm genug. Und räumlich nah ist immer auch emotional näher. Ich kann Dich da sehr gut verstehen!

  • #4

    Kind im Gepäck (Sonntag, 06 August 2017 23:11)

    Hallo Denise,
    ja es macht die Wahrnehmung der Umwelt anders. Es wird einem bewusste wie verletzlich man doch ist und auch seine Liebsten. Davor ist man eben doch ehr auf sich selbst fixiert, sag ich mal so....
    Vielen Dank für Deinen Kommentar und Deinen Bericht!
    Grüße von Mutter zu Mutter.

  • #5

    Melanie (Donnerstag, 17 August 2017 22:50)

    Ja, ich bin eigentlich immer eine harte Sau gewesen. Habe nach der Disco, mir noch Horrorfilme alleine angeschaut um einschlafen zu können. Schrecksekunden waren mir fremd. Seit der ersten Schwangerschaft, fahre ich zusammen wenn beim staubsaugen mein Mann sich arglistig von hinten anschleicht... Zumindest empfinde ich das so. Ich kann noch nicht mal mehr "Aktenzeichen xy" oder "Vermisst" schauen. Also jaaaa... Die Emotionen ändern sich eindeutig. Ich konnte mir nie vorstellen, wie man fühlt, wenn das eigene Kind einen ansieht, tief schnauft und schluchzt: "Mama, ich will niemals alt werden, weil dann musst du ja sterben!" eigentlich dachte ich immer alles ist vergänglich. Das ist der natürliche Kreislauf... aber was soll ich sagen... Für meine Kinder würde ich gerne ewig leben. Alleine die Vorstellung, dass meine Kinder trauern... Brrrrrr... Da würde ich am liebsten in einen Jungbrunnen springen.
    Also an alle Mamas da draußen:
    "Erst durch unsere Kinder hat sich uns das volle Spektrum der Gefühle offenbart!" ich bin dankbar für jeden erlebten Tag!!!

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